Freitag, 12:19 Uhr

August 2010

Muss jedes Kind krabbeln?

Micaela (10 Monate alt) fängt schon an, sich an Möbeln oder an unseren Beinen zum Stehen hochzuziehen. Aber sie macht bisher keine Anstalten zu krabbeln. Meine Freundin, die Kinderärztin ist, hält das für bedenklich; Kinder, die nicht krabbeln, würden sich später weniger harmonisch und unsicherer bewegen. Stimmt das?

Lassen Sie sich bitte nicht unnötig beunruhigen. Die Ansicht, das Krabbeln sei unverzichtbar, ist zwar in bestimmten „alternativen“ Kreisen verbreitet und wird meist mit Theorien zur Zusammenarbeit beider Gehirnhälften begründet. Dazu kommen Aussagen von Therapeutinnen: Sie hätten bei ihrer Arbeit öfter Kinder beobachtet, die als Babys nicht krabbelten und (deswegen?) später Probleme bekommen hätten. Eine Untersuchung, die diesen vermuteten Zusammenhang über einzelne Beobachtungen hinaus eindeutig belegt, gibt es bisher aber nicht. Im Gegenteil: Nach Angaben führender Entwicklungsforscher wie Prof. Remo Largo (Zürich) und Prof. Richard Michaelis (Tübingen) „überspringen“ bis zu 15 Prozent der Kinder das Kriechen/Krabbeln. Und zwar, wie Michaelis ausdrücklich betont, „ohne dass sie Schaden an ihrer motorischen Entwicklung genommen hätten“. Seine Schlussfolgerung lautet, dass das Krabbeln für eine korrekte Bewegungsentwicklung „nicht fundamental notwendig“ ist.

An Ihrer Stelle würde ich deshalb

  • die Vorsorgeuntersuchungen bei der Kinderärztin gewissenhaft wahrnehmen und darauf vertrauen, dass sie Micaelas Entwicklung gründlich untersucht und zuverlässig einschätzt (oder, wenn ich nicht diesen Eindruck hätte, eine „zweite Meinung“ bei einem anderen Kinderarzt oder bei einer Frühförderstelle einholen),
  • Micaela regelmäßig zu Krabbelspielen einladen, indem ich selbst vor ihr herumkrabbele,
  • aber auf keinen Fall versuchen, sie zu irgendetwas zu zwingen.  

Das scheint mir überhaupt die größte Schwäche der Behauptung zu sein, Kinder müssten unbedingt krabbeln: Eltern können den Kleinen ihre Entwicklung nicht vorschreiben. Das führt in aller Regel nur zu fruchtlosen K(r)ämpfen. Wir können Kinder begleiten, ermutigen, Hindernisse aus dem Weg räumen und sie vor Unfällen schützen – aber nicht mehr. Der Rest ist Vertrauen, dass sie selbst am besten wissen, was gut für sie und ihre Entwicklung ist.

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